Vergebung als Weg in die Freiheit

Warum Vergebung ein Geschenk ist, das Mut braucht und lebendig macht, erklärt Sr. Dorothee Laufenberg

Wohl jeder Mensch sehnt sich nach liebevollen Beziehungen mit anderen. Umso schlimmer, wenn diese Sehnsucht verletzt oder gar missbraucht wird. Der erlittene Schmerz vergällt oft noch nach vielen Jahren die Freude am Leben und führt zu Bitterkeit oder Isolation. Zeit allein heilt keinesfalls alle Wunden.

„ … und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern …“ Diese Zeile aus dem Vaterunser gehört sicher zu den am häufigsten zitierten Gebeten von Christen. Mit diesem Wort stellen wir uns hinein in die Beziehung zwischen Gott und den Menschen, mit all unserer Bedürftigkeit und Verletzlichkeit: Wir bitten um Vergebung und schenken sie.

Eigentlich ist das Vergeben also eine urchristliche Tugend, die jeder von uns, quasi mit der Taufe eingegeben, beherrschen müsste. Wie ist das aber nun in der Praxis? „Die Untreue meines Mannes kann ich nicht vergeben.“ „Das verzeihe ich meinen Eltern nie.“ So oder ähnlich hat das vielleicht jeder schon mal gedacht. Zorn oder Rachegedanken, Groll und Bitterkeit können das Leben dauerhaft belasten. Solange wir diese Erlebnisse nicht „vergeben“, also abgeben oder „weg“-geben, kreisen die Gedanken um die verletzende Handlung. Die Vergangenheit lässt uns nicht los.

Dieser Weg des Vergebens kann allerdings sehr schwierig sein, wenn wir Schlimmes erlebt haben, und es ist nichts, was wir einfach so „machen“ können. Um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Vergeben ist weder eine moralische Verpflichtung  („Wenn du ein gläubiger Christ bist, musst du verzeihen!“) noch die Rechtfertigung von Unrecht („Er hatte doch so eine schwere Kindheit“) noch die Wiederherstellung des früheren Zustands („ ... dann ist alles wieder gut“), und auch nicht, dem Schuldiger persönlich in die Hand zu vergeben („Gebt euch die Hand und vertragt euch wieder!“).

Vergeben ist vielmehr ein freies Geschenk eines verletzten Menschen. Wie bei jedem echten Geschenk braucht es eine klare Entscheidung, ein solches Geschenk auch machen zu wollen. So ist auch der erste Schritt zu einer wirklichen Vergebung die persönliche Entscheidung: „Ja, ich will mich auf den Weg machen, dieser Person zu vergeben.“ Dazu braucht es Mut, denn Vergebung bedeutet, sich der ganzen Wirklichkeit zu stellen. Eigene Anteile, eigene Schuld an der Misere sind ebenso anzuschauen wie der „Nutzen“, den ich daraus ziehe, nicht zu vergeben und im Groll zu verharren. Es kann schon psychisch nützlich sein, nicht vergeben zu wollen, zum Beispiel dann, wenn die Schuldzuweisung davor bewahrt, sich Hilflosigkeit, Wut und Trauer einzugestehen oder wenn der soziale Schutz für das „Opfer“ wegfällt.

Vergebung braucht den Mut, Verantwortung für die eigenen Gefühle und Reaktionen, letztlich das eigene Leben, zu übernehmen. Erst am Ende dieses Weges steht dann die Entscheidung, dem Täter, der Täterin zu vergeben – eventuell mit einer Vergebungsurkunde oder einem Vergebungsbrief.

Lebensunzufriedenheit ist oftmals die Folge, wenn uns die alten Geschichten immer neu beschäftigen. Aber solange wir nicht vergeben, bleiben wir an die Person und an die Vergangenheit gebunden und unfrei. Vergeben funktioniert nicht so einfach, wie wenn jemand in einen Automaten eine Münze wirft und dafür etwas erhält. Schmerzhafte Erfahrungen können Menschen nicht einfach vergessen.

Vergebung und Befreiung liegen auch biblisch dicht beieinander. In der Heiligen Schrift lesen wir immer wieder von Gott, der möchte, dass wir als freie Menschen leben – frei von Bitterkeit, frei von Rachegelüsten und frei vom Schmerz der Vergangenheit. Denn: „Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder und Schwestern“ (Gal 5,13). Unabhängig werden von den „Werken des Fleisches: …Streit, Eifersucht, Eigennutz …“, frei werden von den alten Geschichten, die das Leben behindern. Die Heilungsgeschichten im Neuen Testament künden davon.

Tatsache ist, dass wir alle immer wieder in vergebungsbedürftige Situationen kommen. Immer wieder werden Menschen aneinander schuldig. Umso wichtiger ist es, sich bewusst zu machen, wie hilfreich erlebte und geschenkte Vergebung für unser Zusammenleben und für die eigene persönliche Entwicklung ist. Diese Entscheidung zur Vergebung ist völlig unabhängig von der anderen Person, ob sie sich entschuldigt oder nicht und ob sie anwesend ist oder nicht. Wenn jemand einem anderen vergibt, ist das zwar auch gut für den anderen, doch vor allem ist es gut für den Vergebenden. Vergeben ist der Weg in die persönliche Freiheit von „ungeordneten Abhängigkeiten“ (Ignatius von Loyola) und Befreiung zum Leben oder „zur neuen Schöpfung“.

Gott ist heilig im Sinne von vollkommen, und wir haben als getaufte Christen Anteil an dieser Vollkommenheit. Diese Heiligkeit des irdischen Pilgerweges ist eine ziemlich zerbrechliche Angelegenheit. Nicht umsonst sagen wir auch, wenn jemand eine Last abgeben konnte: Er ist erlöst; er muss sich mit der Not, der Schuld, der Angst nicht mehr herumplagen.
So gehört auch das Heil-Werden eng mit dem Fest der Auferstehung zusammen, das wir bald feiern werden: Durch die Auferweckung Jesu hat Gott diese Welt, jeden Einzelnen von uns erlöst, herausgehoben aus all dem, was uns unfrei, lieblos oder gewalttätig sein lässt.

Das kommt sehr deutlich im Lossprechungsgebet der Beichte zum Ausdruck: „Gott, der barmherzige Vater, hat durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes die Welt mit sich versöhnt und den Heiligen Geist gesandt zur Vergebung der Sünden. Durch den Dienst der Kirche schenke er dir Verzeihung und Frieden. So spreche ich dich los von deinen Sünden. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“

Als Vergebende werden wir somit Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Gottes. Menschen, denen vergeben wird, können sich wieder neu ausrichten, werden frei von Zwangsmechanismen und so mehr und mehr die Person, die Gott in ihnen grundgelegt hat. Vergeben ist aber keineswegs eine Einbahnstraße – auch derjenige, der aus freien Stücken das Geschenk des Vergebens machen konnte, wird selbst dadurch frei und heil, auch wenn es für den ersten Schritt manchmal eine gehörige Portion Mut braucht.

Sr. Dorothee Laufenberg SSpS

Dieser Text erschien in der Aprilausgabe der stadtgottes, dem Magazin der Steyler Missionare.